
Wie Patienten schneller genesen und Spitäler Milliarden sparen
Gegen steigende Gesundheitskosten. Statt ans Klinikbett kommt die Oberärztin zur Visite nach Hause. Ein Projekt in einem Zürcher Spital zeigt erste Erfolge. Doch bei der nationalen Umsetzung drohen altbekannte Hürden.
Maren Meyer (Text) und Andrea Zahler (Foto)
Als nachts die Pflegerin an seinem Bett stand und Pavel Kasik weckte, war er überrascht. Dann erinnerte sich der 79-Jährige, dass sie am Abend angekündigt hatte, nochmals nach ihm zu schauen. Das war im April, als Kasik wegen einer aggressiven Virusinfektion Patient des Zürcher Spitals Zollikerberg war. Doch statt im Spitalzimmer konnte er in seinem eigenen Bett genesen – Pfleger und Ärztinnen kamen täglich zur Visite zu ihm nach Hause. Zusätzlich wurden seine Vitalparameter wie die Herzfrequenz rund um die Uhr mittels modernen Telemonitorings überwacht.
Dass Patientinnen und Patienten bei akuten Erkrankungen, die eigentlich einen Spitalaufenthalt erfordern, zu Hause genesen können, ist in der Schweiz bis anhin kaum möglich. Im Ausland hingegen ist dieses sogenannte «Hospital at Home» – das Spital zu Hause – in Akutspitälern bereits in über 30 Ländern etabliert.
In der Schweiz wird die Diskussion dazu schon seit Jahren geführt, politische Vorstösse fordern eine bessere Grundlage für die Umsetzung des Modells. Denn bislang ist nicht geregelt, wie die Kosten dafür abgerechnet werden können. Ein aktueller Bericht zum «Hospital at Home» der Unternehmensberatung Deloitte weist nun auf die Herausforderungen hin, die für die Behandlung zu Hause sprechen: Eine alternde Bevölkerung mit steigenden Bedürfnissen steht steigenden Gesundheitskosten und immer weniger Krankenhauspersonal gegenüber.
Erstes Pilotprojekt in Schweizer Spital
Annieck de Vocht, Gesundheitsexpertin bei Deloitte, sieht mit dem Betreuungsmodell eine grosse Chance für die Spitäler. Jedoch nicht im Alleingang, sondern mit anderen Akteuren wie Spitex, Apotheken und Versicherungen. «Eine regionale Zusammenarbeit mit bestehenden Organisationen wie der Spitex bietet sich an. Dort sind viel Wissen und eine intakte Struktur vorhanden, was unbedingt genutzt werden soll», sagt De Vocht.
Nicht mit der Spitex, sondern mit eigenem Personal bietet das Spital Zollikerberg seit letztem Herbst das «Visit – Spital Zollikerberg zu Hause» an. Patientinnen und Patienten, die eines von sechs Krankheitsbildern wie Lungenentzündung oder eine Herzinsuffizienz haben und in einem Umkreis von fünf Kilometern vom Spital wohnen, können zu Hause genesen. Und das bei einer Betreuung wie auf der Station.
Zu Pavel Kasik kamen dreimal in der Woche ein Oberarzt und täglich Assistenzärztinnen und Pfleger zur Visite. Einmal am Tag kam eine Pflegefachperson, um Infusionen zu legen, die Temperatur und den Blutdruck zu messen. Nach fünf Tagen wurde Kasik aus der Krankenhausbetreuung entlassen – mit der er zufrieden war: «Zu Hause konnte ich mich viel bewegen, und meine Frau kochte für mich», sagt er. Im Spital wäre das nicht möglich gewesen.
«Zu Hause bewegt sich der Patient bis zu 10-mal mehr als im Spital. Das unterstützt die Genesung», sagt Christian Ernst, Co-Leiter des Behandlungskonzeptes «Visit – Spital Zollikerberg zu Hause». Bis heute wurden mit dem neuen Modell um die 30 Patientinnen und Patienten zwischen 30 und 90 Jahren behandelt.
Welche Vorteile das Heimspital für Patienten und Spitäler mit sich bringt, zeigen internationale Studien beispielsweise aus den USA oder Israel. Neben einer besseren und schnelleren Genesung der Patientinnen müssen diese auch seltener zur Nachbehandlung ins Spital zurückkehren. Ältere Patienten, die in vertrauter Umgebung gesund werden, leiden seltener an Verwirrung.
Eine Studie des amerikanischen Johns-Hopkins-Spitals spricht von Einsparungen der Kliniken von 19 bis 30 Prozent im Vergleich zur herkömmlichen stationären Versorgung. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Telemedizin. Also die Überwachung mittels digitaler Geräte, die Daten über die Herz- und Atemfrequenz oder Sauerstoffsättigung an die Klinik senden. Laut einer Studie von McKinsey und der ETH Zürich von 2019 könnten durch den Einsatz dieser Technologien im Schweizer Gesundheitswesen 8,2 Milliarden Franken pro Jahr eingespart werden.
«Die Behandlungen sollen den Patientinnen und Patienten zugutekommen, aber auch Ressourcen sparen und die Spitäler entlasten», sagt Christian Ernst vom Spital Zollikerberg. Möglich macht das Projekt die Stiftung Diakoniewerk Neumünster, die als Trägerschaft des Spitals den Grossteil der Kosten trägt. Zudem gibt es Kooperationen mit Krankenkassen.
Verschiedene Möglichkeiten der Finanzierung
Heute werden die stationären Kosten zu 55 Prozent durch die Kantone und zu 45 Prozent durch die Krankenversicherungen getragen. Ambulante Kosten werden komplett durch die Versicherer und somit durch die Prämien der Versicherten gedeckt. Wie aber wird abgerechnet, wenn eine Person eigentlich stationär im Spital aufgenommen wurde, die Behandlung aber bei ihm zu Hause stattfindet?
Auf politischer Ebene könnte die Einführung des sogenannten Experimentierartikels Abhilfe schaffen, der Pilotprojekte zur Eindämmung der Kostenentwicklung möglich machen soll. Dazu gehört auch die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen. Hierzu hat der Bundesrat im März weitere Massnahmen in die Vernehmlassung geschickt.
Neben der Finanzierung muss die Frage der Zuständigkeiten geklärt werden. «Es darf nicht sein, dass es Parallelstrukturen gibt, weil Spitäler neue Einkommensmodelle entwickeln wollen», sagt Marianne Pfister, Geschäftsführerin des Dachverbandes Spitex Schweiz. Personen nach einem Spitalaufenthalt in Zusammenarbeit mit einem Hausarzt zu Hause zu betreuen, sei Aufgabe der Spitex, die über entsprechende Kompetenz und Expertise verfüge. «Ein privater Haushalt ist kein Spital, und für die Pflege und Betreuung braucht es viel Erfahrung», sagt Pfister.
Anstelle eines neuen Modells müsse das bestehende Modell der Pflege zu Hause weiterentwickelt werden, fordert Pfister. Dabei müssen die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen der Spitex, den Hausärzten und Spitälern gestärkt werden. Es brauche die richtigen Rahmenbedingungen für eine koordinierte Versorgung und dies in allen Regionen. Pfister sieht hier auch die Kantone in der Pflicht: «Sie sind gefordert, die richtigen Anreize zu schaffen und eine gute Zusammenarbeit zu ermöglichen.»
Neues Projekt soll im Dezember starten
Ein Verfechter des Modells ist Abraham Licht. Seit neun Jahren kümmert sich der Chefarzt des Notfallzentrums der Zürcher Hirslanden-Klinik um das Thema, er hat ein Konzept verfasst und wurde bereits viermal bei der Gesundheitsdirektion des Kantons vorstellig. Nun ist der fünfte Anlauf geplant.
Gemäss ausländischen Studien sind laut Licht Kosteneinsparungen für Schweizer Spitäler von 5 bis 10 Prozent möglich. Was eine Summe von bis zu 3 Milliarden Franken bedeuten würde: Laut aktuellsten Kennzahlen vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) trug die Versorgung durch die Krankenhäuser 2019 mit 30,3 Milliarden Franken zu den Kosten im Gesundheitswesen bei.
Licht hat nun mit zwei Partnern eine AG gegründet und will das «Hospital at Home» zusammen mit der Spitex und anderen Zürcher Spitälern in einem Pilotprojekt in der Praxis testen. «Ich will nicht das Spital abschaffen, sondern ein alternatives Versorgungsmodell für klar definierte und wissenschaftlich im Hospital at Home überprüfte Krankheitsbilder schaffen», sagt Licht. Im Dezember soll das Projekt starten.
Ob das Angebot am Spital Zollikerberg nach der Pilotphase in den Regelbetrieb integriert wird, hängt davon ab, wie gut sich das Modell etabliert und welche Erfahrungen gesammelt werden können. Zusätzlich muss die Frage der Finanzierung geklärt sein. «Wir müssen jetzt beweisen, dass es funktioniert», sagt Christian Ernst.
Kommentar Werner Bachmann
Primavista eine hervorragende Idee. Kompliment!
Finanzierung? Mit dem System der Einheits-KrankenKasse ist das wirklich kein Problem: einfach die verwendete Zeit für das Einrichten der Überwachungsgeräte, die Anfahrt zum Patienten, die Pflegezeit und die Medikamente eingeben. Transparenter und ehrlicher geht’s nicht! – und schon erhält der Patient eine Abrechnungskopie in seiner Sprache!
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